Senecas Briefe

Was heißt „glückliches Leben“? Sorgenfreiheit und dauerhafte Gemütsruhe. Dieser Zustand wird eine Gabe der Seelengröße sein sowie des standhaften Festhaltens an einem richtigen Werturteil. Wie erreicht man dieses Ziel? Wenn man die Wahrheit voll und ganz durchschaut hat; wenn im Handeln gewahrt bleiben Ordnung, Maß, Anstand, eine Gesinnung, lauter und gütig, die sich an der Vernunft orientiert und niemals von ihr abweicht, liebens- und bewunderungswürdig zugleich. Mit einem Wort, um es Dir kurz auf eine schriftliche Formel zu bringen, die Geisteshaltung eines weisen Mannes muss so sein, dass sie eines Gottes würdig ist. Was kann der vermissen, dem alle sittlichen Vorzüge zuteil werden? Denn wenn schon Dinge ohne sittlichen Wert ein klein wenig zum besten Zustand beitragen können, so wird das glückliche Leben in dem begründet sein, ohne das es diese überhaupt nicht gibt. Und was ist beschämender und törichter, als den Wert der vernünftigen Seele von ihrem vernunftlosen Bereichen abhängig zu machen?

Senecas Briefe, 14. Buch, 92. Brief